Nachholbildung, Sachbearbeiterin, Fachausweis und Diplom
Ein steiler Bildungsweg, eine tolle Entwicklungsgeschichte
Der Liebe wegen kam Oksana Willi-Poleshuk 2007 aus Usbekistan in die Schweiz. Es reichte ihr nicht, ausschliesslich Ehefrau und Mutter zu sein. Sie wollte sich eine eigene berufliche Perspektive schaffen. Vier Weiterbildungen später hält sie das Diplom als Expertin in Rechnungslegung und Controlling in Händen und ist Leiterin Rechnungswesen bei der Eniwa AG, einer Energieversorgerin im Kanton Aargau.
Bei unserem ersten Interview im Jahr 2017 berichtete Oksana Willi von den Jahren des Ankommens in der Schweiz, die nicht immer einfach waren. Doch sie wollte ihrem ersten von inzwischen zwei Kindern ein Beispiel sein und stieg in eine beeindruckende Bildungslaufbahn ein. Auf eine kaufmännische Nachholbildung folgten der Lehrgang zur Sachbearbeiterin Rechnungswesen und zur Fachfrau im Finanz- und Rechnungswesen. 2024 schloss sie die Diplomausbildung ab und ist damit auf der höchsten Stufe der beruflichen Weiterbildung angelangt. Eine tolle Ausgangslage für ein zweites, entspanntes Gespräch.
Herzliche Gratulation zu Ihrem neuen Berufstitel! Haben Sie Ihren Erfolg auch entsprechend gefeiert?
Mit etwas Verspätung ... An der offiziellen Schlussfeier konnte ich leider nicht teilnehmen, womit die interne Feier der Controller Akademie für mich zum Abschluss dieser intensiven Zeit wurde. Das Treffen mit meinen Kolleginnen und Kollegen war mir sehr wichtig – zusammen sind wir diesen Weg gegangen, zusammen haben wir diese Zeit auch ausklingen lassen.
War Ihnen schon gleich nach dem Fachausweis klar, dass Sie das Diplom machen würden?
Das ging nicht so schnell. Eigentlich wollte ich Steuerexpertin werden. Meine berufliche Erfahrung war aber für dieses spezifische Aufgabengebiet noch zu wenig breit. Deshalb entschied ich mich für die Weiterbildung zur Expertin in Rechnungslegung und Controlling. Das entspricht meinem Profil und war – im Nachhinein betrachtet – genau die richtige Entscheidung.
Inwiefern?
Mein Vorgesetzter hatte sich noch vor den Prüfungen entschieden, die Stelle zu wechseln – als seine Stellvertreterin und dank meiner Weiterbildung rückte ich nach. Ich bin nun Abteilungsleiterin, führe ein Team und bin einbezogen in strategische Fragestellungen. Plötzlich geht es um Investitionsrechnungen, Unternehmensbewertung etc. Ich habe schon oft gedacht: Zum Glück habe ich zu diesem Thema in der Schule gut aufgepasst!
Sie haben einen beeindruckenden Bildungsweg zurückgelegt und dozieren nun sogar selber ...
Nach dem Fachausweis bot mir die HKV Aarau an zu unterrichten. Ich bin nebenberuflich Dozentin in Lehrgängen, die ich selber besucht hatte. Immer wieder stehe ich im Austausch mit migrierten, fremdsprachigen Teilnehmenden. Sie interessieren sich sehr dafür, wie ich es geschafft habe, hier Fuss zu fassen. Ich freue mich, wenn meine Geschichte andere inspirieren kann.
Sind sie inzwischen zum Rollenmodell geworden?
Und zur Klischeebrecherin ... Aus Liebe in die Schweiz gekommen und sehr gerne Mutter, aber auch eine Frau, die im Beruf und in der Bildung einen Beitrag an die Schweizer Gesellschaft leistet. Ich durfte von vielen Möglichkeiten profitieren und gebe etwas zurück.
Was ist Ihr Credo als Dozentin, was bringen Sie ins Klassenzimmer ein?
Die Leidenschaft für die Zahlen und die Freude daran, Wissen und Erfahrung zu teilen. Darin bin ich überhaupt nicht geizig (lacht)! Es ist toll, wenn man die Verbindung zwischen Theorie und eigener Praxis herstellen kann. Dieses Feuer spüren die Teilnehmenden. Ich liebe die Weiterbildungsatmosphäre – jetzt einfach auf der anderen Seite des Klassenraums.
Sie kennen die Stufen der Schweizer Berufsbildung aus eigenem Erleben. Was sind Ihre Eindrücke?
Das Bildungssystem in der Schweiz ist eines der besten. Man muss selber viel investieren, es braucht Disziplin, um sich durchzubeissen. Man muss Prioritäten setzen, auch finanziell. Zum Glück beteiligen sich der Staat und teilweise auch die Arbeitgeber an den Kosten der beruflichen Weiterbildung. Grundsätzlich steht dieser Weg hier jedem offen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht usw. Das private Umfeld muss natürlich mitmachen, aber es handelt sich ja um eine begrenzte Zeit. Die Früchte, die man dafür erntet, sind jede Mühe wert (lacht)!
Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zwischen den Weiterbildungen auf Stufe Fachausweis und Diplom?
Der Zeitfaktor ... Im Fachausweis war es noch möglich, im Unterricht zwei oder drei Aufgaben zu einem Thema zu lösen. In der Diplomausbildung ging das nicht mehr. Die Wissenspakete mussten zu Hause selbstständig weiterbearbeitet werden. Das war definitiv eine andere Stufe mit anderen Anforderungen.
Welche Herausforderungen boten die Prüfungen?
Corporate Finance gleich am Anfang war eine Knacknuss, eine Nervenprüfung mit sehr, sehr viel Stoff in sehr wenig Zeit. Danach kamen die Fächer, in denen ich mehr Fleisch am Knochen zu bieten hatte. Noch am Abend vor der letzten Prüfung habe ich ein bisschen gefeiert, ich hatte das Gefühl, dass nichts mehr schiefgehen kann.
Sie hatten Leadership als Ausbildungsthema. Ziehen Sie daraus einen direkten Nutzen für Ihre Funktion?
Sicher! Der Expertenlehrgang ist ausgerichtet auf eine Führungsposition, da geht es häufig mehr um das Zwischenmenschliche als um das Fachliche. Um Menschen führen zu können, musst du sie spüren, du musst wissen, wie du das Team gewinnen kannst. Die psychologischen Aspekte der Führungsarbeit hätten im Workshop gerne noch mehr Gewicht erhalten dürfen.
Der Fachverband SwissAccounting hat 2023 geschützte Titel zum Bachelor und Master Professional eingeführt. Ist diese Titelgebung für Sie ein Thema?
Wenn man sich für eine internationale Firma oder einen Job im Ausland interessiert, sind solche Titel sehr wichtig. Mich selber betrifft das weniger. Mir gefällt’s in der Schweiz, ich will nirgendwo anders hin (lacht). Zu meiner beruflichen Situation passt der Titel als diplomierte Expertin.
Welche Tipps geben Sie Berufsleuten, die in eine berufliche Weiterbildung einsteigen?
Verliert nie euer Ziel aus den Augen! Irgendwann in einer längeren Ausbildung kommt ein Motivationsloch. Es hilft, sich dann an seine Ziele zu erinnern. Und sich mit dem Zertifikat, dem Fachausweis oder dem Diplom in der Hand vorzustellen. Das macht so glücklich, das ist so ein euphorisches Gefühl! Und natürlich muss man sich auch mal etwas gönnen. Bei wir war das ein Tag des Faulenzens vor dem Fernseher, was mir sonst nie in den Sinn käme. Und die Ferien waren strikt Familienzeit.
Wie haben Sie sich fürs Lernen organisiert?
Für die konkrete Prüfungsvorbereitung hatten wir eine Lerngruppe und der Sonntag war von Anfang an mein individueller Lerntag. Kurz vor den eidgenössischen Prüfungen habe ich auch jede freie Minute morgens vor der Arbeit genutzt. Durch den beruflichen Funktionswechsel war die Zeit sehr knapp. Ich profitierte davon, dass ich kontinuierlich gelernt hatte. Das war ein gutes Fundament.
Gibt es eine Botschaft, die Sie abschliessend platzieren möchten?
Ich möchte Menschen motivieren, die hierher kommen und sich ein Leben aufbauen wollen. Die sprachliche Kompetenz ist das A und O, um sich zu integrieren. Man kann viel erreichen, wenn man offen und neugierig ist und schätzt, was die Schweiz zu bieten hat. Mit ihren Sprachen und Kulturen ist sie selber auch offener für Anderes. So habe ich das jedenfalls erlebt. Ich fühle mich ziemlich wohl hier (lacht). Also ich kann schon sagen, dass ich zur Schweizerin geworden bin ...
Oksana Willi-Poleshuk, herzlichen Dank für das Gespräch!